Der Countdown für die letzten 15km läuft. Es ist 7Uhr59, 50 Sekunden.
Ich stehe an der Startlinie und denke im Countdown an die letzten 24
Stunden:
10 Stunden habe ich geschlafen. Die Nacht von Donnerstag auf
Freitag war sehr unruhig, da immer wieder die Ärztin Nancy zu mir kam,
um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Sie hatte Sorge, dass ich
nicht genug trinken und damit die Funktion meiner Nieren beeinträchtigen
würde. Somit musste ich unter Aufsicht eine Dose Cola leeren, mit dem
Resultat, dass ich mit 20 Minuten später wieder übergeben musste. Ich
krabbelte im Dunkeln auf allen Vieren aus dem Zelt und erblickte in
letzter Sekunde einen Mülleimer. Danach ging es mir etwas besser und ich
fiel in einen erschöpften Schlaf.
9 Stunden hatte ich für die 75km gebraucht.
Die
letzten 8 km der langen Etappe waren die längsten meines Lebens. Ich
stellte mir immer wieder die Strecke vor, die ich zu bewältigen hatte:
zwei Runden um den St. Moritzer See. Zweimal am Segelclub vorbei.
Zweimal das Waldhaus passieren. Zweimal an der Eisarena und vorbei an
dem Pferdestall.
7 Mal hatte ich mich auf der Strecke übergeben müssen.
6 Mal musste ich ziemlich schnell den Donnerbalken aufsuchen.
5 Tüten Gummibären hatte ich gegessen, was ein gutes Zeichen war.
4
Stunden Schlaf gönnte ich mir am Mittag im Schatten eines Baumes auf
der 5cm dicken Isomatte meines Bruders. Es war wie im Himmel!
3 Liter Wasser habe ich vom Vormittag bis Mittag getrunken und musste nicht einmal pinkeln. Ich war wohl etwas ausgetrocknet.
2
Mal dachte ich die lange Etappe. Einmal an die ersten 45km, als noch
alles nach Plan verlief. Ich spulte die Kilometer ab. Die Krisen kamen
und gingen auch wieder. Ich konnte viele mentale Techniken anwenden. Ich
"öffnete" immer wieder meine Schädeldecke und füllte meinen Körper mit
Eiswürfeln, um die Temperatur innerlich zu kühlen. Ich aktivierte alle
Sinne und nahm Farben, Gerüche und Geräusche besonders gut wahr. Das
Tempo konnte ich beliebig regulieren. Ich lief im grünen Bereich.
Der
zweite Abschnitt dagegen war ein Horrortrip: 25km vor dem Ziel und der
Magen-Darm-Virus übernahm das Kommando. Übelkeit, Erbrechen und
Durchfall. Alleine auf der Strecke. Inmitten eines Sandsturms.
Gegenwind, der jegliches Joggen verhinderte. Ich hatte Angst, dass ich
die Orientierung verlor. Meine Gedanken waren nur auf das Ziel
gerichtet. Ich wollte endlich ankommen und mich hinlegen. Die Übelkeit
zwang mich zum walken und das langsame Tempo machte mich fertig. Ich kam
mir vor, als hätte ich Klebstoff an den Schuhsohlen. Die endlose gerade
Sandstrasse im Niemandsland verlangte alles. Als ich endlich im Ziel
war, vergrub ich mein Gesicht hinter meinen Händen, um den Tränenfluss
zu stoppen. Vicente und Mo kamen aus ihren Zelten, um zu gratulieren,
was mir in diesem Moment sehr viel bedeutete.
1 Sekunde bis zum
Start und mir gingen alle Bilder der letzten 12 Trainingsmonate durch
den Kopf. Die vielen 1000 Kilometer, die ich bei Wind und Wetter
abgespult hatte. Bei Sonne und Regen. Bei minus 30 und bei plus 40 in
der Sauna. Mit Rucksack und ohne leicht wie eine Feder. Bergauf,- und
bergab immer wieder im Wechsel.
0 Mal dachte ich ans Aufgeben.
Ich rannte los und erkämpfte mir meinen Platz. Einige Läufer gaben
ordentlich Gas, weil sie eine gute Chance auf eine Verbesserung der
Platzierung hatten. Ich lief mit 5min/km oder 12km/h in einem guten
Tempo nach dem Motto "Alles oder Nichts". Die Strecke führte leicht
abschüssig durch ein Dorf über asphaltierte Strasse. Nur flach. Keine
Steine. Vereinzeilt standen die Dorfbewohner am Strassenrand und
schauten fasziniert zu. In meinen Ohren hämmerte der Beat von NOFX. Ich
rannte und die Maschine lief. Nach einer letzten Abbiegung gelangte ich
auf eine breite Strasse. Am Horizont konnte ich eine Menschenmenge
erkennen und war irritiert, dass anscheinend das Ziel greifbare Nähe
gerutscht war! Ich beschleunigte nochmals das Tempo und lief wie auf
Federn. Die Dorfbewohner und Schulkinder klatschen und jubelten mir zu,
als ich die finalen Meter auf den Pausenhof einer Schule zulief. Mit
einem Luftsprung hüpfte ich über die Ziellinie und war völlig
beeindruckt. Mein Bruder kam und wirbelte mich durch die Luft, so dass
mir der Atem wegblieb. Ich hatte es geschafft. Ich bin allen Zweifeln
davongerannt. ich fühlte mich vogelfrei. "An Tagen wie diesen wünscht
man sich Unendlichkeit" (Song der "Toten Hosen").
Danke.
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