Freitag, 22. Juni 2012

Der Countdown für die letzten 15km läuft. Es ist 7Uhr59, 50 Sekunden. Ich stehe an der Startlinie und denke im Countdown an die letzten 24 Stunden:
10 Stunden habe ich geschlafen. Die Nacht von Donnerstag auf Freitag war sehr unruhig, da immer wieder die Ärztin Nancy zu mir kam, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Sie hatte Sorge, dass ich nicht genug trinken und damit die Funktion meiner Nieren beeinträchtigen würde. Somit musste ich unter Aufsicht eine Dose Cola leeren, mit dem Resultat, dass ich mit 20 Minuten später wieder übergeben musste. Ich krabbelte im Dunkeln auf allen Vieren aus dem Zelt und erblickte in letzter Sekunde einen Mülleimer. Danach ging es mir etwas besser und ich fiel in einen erschöpften Schlaf.
9 Stunden hatte ich für die 75km gebraucht.
Die letzten 8 km der langen Etappe waren die längsten meines Lebens. Ich stellte mir immer wieder die Strecke vor, die ich zu bewältigen hatte: zwei Runden um den St. Moritzer See. Zweimal am Segelclub vorbei. Zweimal das Waldhaus passieren. Zweimal an der Eisarena und vorbei an dem Pferdestall.
7 Mal hatte ich mich auf der Strecke übergeben müssen.
6 Mal musste ich ziemlich schnell den Donnerbalken aufsuchen.
5 Tüten Gummibären hatte ich gegessen, was ein gutes Zeichen war.
4 Stunden Schlaf gönnte ich mir am Mittag im Schatten eines Baumes auf der 5cm dicken Isomatte meines Bruders. Es war wie im Himmel!
3 Liter Wasser habe ich vom Vormittag bis Mittag getrunken und musste nicht einmal pinkeln. Ich war wohl etwas ausgetrocknet.
2 Mal dachte ich die lange Etappe. Einmal an die ersten 45km, als noch alles nach Plan verlief. Ich spulte die Kilometer ab. Die Krisen kamen und gingen auch wieder. Ich konnte viele mentale Techniken anwenden. Ich "öffnete" immer wieder meine Schädeldecke und füllte meinen Körper mit Eiswürfeln, um die Temperatur innerlich zu kühlen. Ich aktivierte alle Sinne und nahm Farben, Gerüche und Geräusche besonders gut wahr. Das Tempo konnte ich beliebig regulieren. Ich lief im grünen Bereich.
Der zweite Abschnitt dagegen war ein Horrortrip: 25km vor dem Ziel und der Magen-Darm-Virus übernahm das Kommando. Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Alleine auf der Strecke. Inmitten eines Sandsturms. Gegenwind, der jegliches Joggen verhinderte. Ich hatte Angst, dass ich die Orientierung verlor. Meine Gedanken waren nur auf das Ziel gerichtet. Ich wollte endlich ankommen und mich hinlegen. Die Übelkeit zwang mich zum walken und das langsame Tempo machte mich fertig. Ich kam mir vor, als hätte ich Klebstoff an den Schuhsohlen. Die endlose gerade Sandstrasse im Niemandsland verlangte alles. Als ich endlich im Ziel war, vergrub ich mein Gesicht hinter meinen Händen, um den Tränenfluss zu stoppen. Vicente und Mo kamen aus ihren Zelten, um zu gratulieren, was mir in diesem Moment sehr viel bedeutete.
1 Sekunde bis zum Start und mir gingen alle Bilder der letzten 12 Trainingsmonate durch den Kopf. Die vielen 1000 Kilometer, die ich bei Wind und Wetter abgespult hatte. Bei Sonne und Regen. Bei minus 30 und bei plus 40 in der Sauna. Mit Rucksack und ohne  leicht wie eine Feder. Bergauf,- und bergab immer wieder im Wechsel.
0 Mal dachte ich ans Aufgeben.

Ich rannte los und erkämpfte mir meinen Platz. Einige Läufer gaben ordentlich Gas, weil sie eine gute Chance auf eine Verbesserung der Platzierung hatten. Ich lief mit 5min/km oder 12km/h in einem guten Tempo nach dem Motto "Alles oder Nichts". Die Strecke führte leicht abschüssig durch ein Dorf über asphaltierte Strasse. Nur flach. Keine Steine. Vereinzeilt standen die Dorfbewohner am Strassenrand und schauten fasziniert zu. In meinen Ohren hämmerte der Beat von NOFX. Ich rannte und die Maschine lief. Nach einer letzten Abbiegung gelangte ich auf eine breite Strasse. Am Horizont konnte ich eine Menschenmenge erkennen und war irritiert, dass anscheinend das Ziel greifbare Nähe gerutscht war! Ich beschleunigte nochmals das Tempo und lief wie auf Federn. Die Dorfbewohner und Schulkinder klatschen und jubelten mir zu, als ich die finalen Meter auf den Pausenhof einer Schule zulief. Mit einem Luftsprung hüpfte ich über die Ziellinie und war völlig beeindruckt. Mein Bruder kam und wirbelte mich durch die Luft, so dass mir der Atem wegblieb. Ich hatte es geschafft. Ich bin allen Zweifeln davongerannt. ich fühlte mich vogelfrei. "An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit" (Song der "Toten Hosen").
Danke.

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