Donnerstag, 08. April 2012:
Was würde mich auf dieser langen Etappe erwarten. Welche Strategien würden bei Erschöpfung helfen. Lange Etappen hatte ich im Training mehrfach geübt; aber 73.4km war ich noch nie am Stück gejoggt. Bei den 24 Stunden Wanderungen, die ich mit meiner Firma hier im Engadin anbiete, laufen wir zwar auch immer zwischen 60-70km; aber innerhalb 24 Stunden. In Anbetracht dessen erschien mir aber zumindest die Anzahl der Kilometer nicht ganz unbekannt.
Die Stimmung im Zelt war ausgelassen und manch einer versuchte somit seine Nervosität zu verstecken. Nach den üblichen Morgenritualen stand ich dann um 07:50 Uhr an der Startlinie. In meinen Gedanken summte ich ein Lied der Band „Bush“, das mit den Worten: „.. Mind strong, body strong…“ anfängt. Ich würde einfach mal schauen, wie sich der Tag anfühlen würde und wollte flexibel bleiben.
Der Countdown wurde gezählt und mit einem Schwung ging es los. Ich wählte das Tempo bewusst langsamer als sonst und einige andere, die sonst immer hinter mir waren, zogen bereits auf den ersten Kilometer an mir vorbei. Um mich herum hatte sich eine Gruppe aus sehr angenehmen Personen gebildet: Joel, Massimo und MB Alex sowie Sandy. Wir liessen es auf den ersten 10km einer flachen Sandstrasse einfach rollen und unterhielten uns anregend. Ich erzählte allen die Geschichte, dass wir uns auf einer sehr langen Tageswanderung in der Engadiner Bergwelt befinden würden und dass wir einen schönen Gipfel als Ziel im Visier hatten. Für mich hatte diese Vorstellung eine unglaublich positive Auswirkung, da sie mich von der eigentlichen Länge der Strecke ablenkte. Vor meinem inneren Auge sah ich die Route auf den Piz Palü und versuchte diese meinen Mitläufern im Detail zu beschreiben. Dadurch lenkte ich mich immer wieder sehr gut ab. Nach dem ersten Trinkstopp am Checkpoint musste Alex aus unserer Gruppe ein langsameres Tempo einschlagen, da ihm sein Knie schmerzte. Auch Joel und Massimo zogen leicht vorweg, so dass Sandy und ich im Gleichschritt Kilometer gut machten. Die Route hielt wieder einige Überraschungen für uns bereit. Nachdem wir einen Fluss erfolgreich durchquert hatten, ging die Strecke auf der anderen Seite durch knöchelhohen Sand weiter. Die Füsse waren wie ein Wiener Schnitzel paniert und fühlten sich gleich zwei Kilo schwerer an. Es wäre einfach ein enormer Zeitaufwand gewesen, die Schuhe auszuziehen und vom Sand und Wasser zu befreien. Somit rannte einfach jeder mit diesen triefenden Schuhen weiter.
Es folgte eine lange Sandpassage bis zum nächsten Checkpunkt, an dem ich meine Wasservorräte auffüllte. Danach wechselte die Landschaft, die ich mit dem Titel „Niemandsland“ bezeichnen würde, in ein lebensfeindliches Terrain. Der Boden war salzverkrustet, teils hart, teils weich. Die Hitze flimmerte und war auf der Haut deutlich zu spüren. Die Mittagssonne brannte gnadenlos herab und ich kam mir vor, wie ein gestrandeter Fisch. Im Walkingschritt kämpften wir uns voran, da an ein Joggingtempo nicht mehr zu denken war. In weiter Ferne tauchte eine lange Sanddüne vor uns auf, die mit Felsen durchsetz einem Canyon glich. Wir mussten mit den Wasservorräten ziemlich haushalten, da in absehbarer Zeit kein Checkpunkt kommen würde. Eine ziemlich verzwickte Situation.
Mittlerweile hatten wir wieder eine Gruppe von Athleten eingeholt. Ich traf Massimo wieder und mit schnellen Schritten übernahmen wir die Führung der Gruppe. Wir erzählten uns trotz aller Anstrengungen viele Geschichten und hatten ziemlich viel Spass zusammen. Nach einer gefühlten Ewigkeit zogen wir zu der Gruppe vor uns auf, die sich aus Team Germany/ Switzerland und Joel gebildet hatte. Nach einem kurzen Plausch musste ich zusehen, dass ich meinem Zugpferd Massimo auf den Hufen blieb. Vor uns lag nun diese riesige steile Sanddüne, die wir aus weiter Ferne schon betrachtet hatten. Massimo wollte unbedingt vor der Gruppe in die Düne einsteigen und eilte wie der Blitz dem Einstieg entgegen. Für mich als Bergziege sollte dieses Hindernis nicht zum grossen Problem werden und so wetteten Massimo und ich, dass wir die Strecke unter 10 Minuten schaffen würden. Das Gelände erinnerte mich an den Piz Palü. Rechts die drei Rippen und links davon die Aufstiegsspur. Ich legte eine schöne Zickzackspur in den Sand und kam nach sechs Minuten auf dem Sandplateau an. Mit gewaltigen Schritten überquerten wir dieses Hochplateau und auch hier erinnerte mich alles irgendwie an den Gipfel des Piz Palü. Die Landschaft war doch sehr beeindruckend, zumal sich am blauen Himmel sehr schöne weisse Schäfchenwolken abzeichneten, die der Situation noch mal einen anderen Reiz verliehen. Plötzlich endete der Weg vor einem steilen Abgrund und wir blieben abrupt stehen. Sollten wir dort etwa herunterspringen? Zum Glück machte ich ein weiteres pinkfarbenes Markierungsfähnchen weiter links ausfindig, welches uns den richtigen Weg zeigte. Zu meiner grossen Freude ging es dort wirklich steil bergab und in alter Gewohnheit fing ich an zu rennen. Ich fegte über den Grat nach unten, so dass die anderen nur staunten. Geradeaus vor mir lag zudem auch noch der nächste Checkpunkt, so dass meine Motivation Flügel bekam. Gierig füllten wir die Flaschen auf und nahmen jeder noch einen langen Schluck aus der kühlen Flasche, die uns die fleissigen Voluntaris anreichten.
Die kommende Teilstrecke lag elendig flach vor uns. Die Hitze vibrierte auf dem trockenen Boden und die wenigen Wolken waren weit entfernt. Nach einer kurzen Absprache mit Massimo beschlossen wir, mit einem schnellen Walkingtempo die weite Steppe zu durchqueren, da alles andere viel zu anstrengend gewesen wäre. Mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von ca. 7- 7.5km/h sah man hinter uns nur noch eine Staubwolke. In der Ferne peilten wir immer wieder markante Punkte, die wir uns als Ziel setzen. War der Punkt erreicht, suchten wir uns Neue. Zudem hatte einer von uns beiden immer wieder etwas zu erzählen, so dass diese ausgetrocknete Landschaft schnell an uns vorüberzog. Mit lauten Anfeuerungsrufen „Forza!“, „Come on!“, „Hopp Flammi!“ machten wir uns gegenseitig Feuer unter dem Hintern und ermahnten uns, das Tempo beizubehalten. Es ist schon erstaunlich, wie man sich mit solchen „positiven“ Worten animieren und neue Kräfte wecken kann.
Durch das schnelle Walken hingen allerdings meine Arme die meiste Zeit nach unten, was zur Folge hatte, dass sich in meinen Händen Wasser und Blut staute. Ein ziemlich unangenehmes Gefühl, wenn man die Finger nicht mehr zu Fäusten ballen kann. Fortan walkte ich also mit hochgehaltenen Armen durch die Landschaft, was wohl eher an einen betenden Priester erinnerte, als an eine Extremläuferin. Es führte aber zum entsprechenden Erfolg.
Als wir den nächsten Checkpunkt erreichten, war ich ein wenig verwirrt. Man fragte mich, ob ich heisses Wasser haben wollte. Heisses Wasser? Ich wurde doch schon äusserlich von der Sonne gekocht. Mir wurde erklärt, dass ich mit dem Wasser mein Essen kochen könnte. Essen? Erst langsam begriff ich, dass wir uns bereits an dem Checkpunkt befanden, an dem man übernachten und richtiges Essen kochen konnte. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte mir allerdings, dass es zum Übernachten doch noch reichlich früh sei. Und Hunger hatte ich dank der guten Energieversorgung von Winforce überhaupt nicht. Ich hatte ja noch nicht mal einen Harndrang! Und das nach ca. sechs Stunden. Somit füllten wir nur kurz die Flaschen auf und machten uns auf Weg, der noch vor uns lag.
Wir hatten bereits zwei Drittel geschafft. Ich freute mich ungemein, da die Zeit wir im Flug vergangen war. Wir hatten also schon ca. 50km der langen Etappe hinter uns gebracht. Vor uns lagen nur noch 20km. Meine Beine fühlten sich erstaunlich frisch an. „Einmal bis nach Sils und wieder zurück“ blitzen die Worte und Bilder in meinem Hirn auf. Das schaffen wir locker. Mittlerweile waren Massimo und ich völlig allein auf der nächsten Teiletappe. Wir hatten alle abgehängt oder überholt und trabten in unserem gewaltigen Tempo den Kilometern davon. Der Weg führte uns zuerst 5km lang über eine extrem unebene Schotterstrasse. Am Ende mussten wir rechts abbiegen und vor uns lag eine ebensolche Strasse, die im Nirgendwo zu enden schien. Ich kannte solche Bilder nur aus amerikanischen Filmen. Man konnte selbst am Horizont nichts erkennen. Nur die kleinen Markierungsfähnchen am Strassenrand verrieten uns, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Mit italienischen Liedern („O sole mio“ und „Felicitas“) hielten wir uns bei Laune, gefolgt von lauten Ausrufen „Loooos geht’s!“, „Dai Dai Dai“!; wir waren ja mutterseelenallein auf dieser Strasse, so dass wir aus voller Kehle unseren ganzen Frust rausbrüllen konnten. Und es tat so gut!
Das Tempo im Walkingschritt hielten wir bei schnellen 7km/h; allerdings hatte das Walken zur Folge, dass ich meinen Fuss ziemlich stark über die Ferse abrollte, womit sich an beiden Fersen fiese Blasen bildeten. Und diese Blasen platzen irgendwann auf. Diese Schmerzen trieben mir nicht nur die Tränen in die Augen, sondern liessen mich ein lautes „Halleluja“ kreischen. „Massimooooo, der schlimmste aller Fälle ist eingetreten: die Blasen sind aufgeplatzt!“, stotterte ich nur noch vor mich hin. „Du schaffst das schon!“, kam als eindeutige Ansage. Und ich schaffte es tatsächlich. Der Schmerz brauchte ca. 1km, bis er verschwunden war. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass es sich um Blutblasen handelte und mein ganzer Schuh unter Blut stand. Aber an diese Vorstellung durfte ich nicht meine Energie verschwenden; diese brauchte ich noch für den uns bevorstehenden Bergpass, der sich nach dem letzten Checkpunkt vor uns auftürmte.
Auf einer steilen Passstrasse spielten meine Gedanken mir dann einen Streich: Wir wanderten über Salzkristalle, die wie Eis aussahen. Für kurze Zeit war ich mit meinen Gedanken auf einem Trainingslauf im Val Fex verschwunden, ehe mich die Wirklichkeit zurückholte. Auf dem Pass bot sich uns ein fantastisches Naturschauspiel. Zu beiden Seiten ragten hohe Salztürme hervor, die teilweise wie Altare aussahen. Die Strecke zog sich leicht steigend aufwärts; für mich ein Grund der Freude: Denn wenn es bergauf geht, ändert sich das Gefälle auch irgendwann wieder gen abwärts. Und so war es dann auch: Ich begann einfach zu rennen und jubelte mit lauten Rufen des Glücks Massimo entgegen: „Ich muss einfach rennen, das ist zu schön!“ Massimo hatte an der Stelle leider ziemlich zu kämpfen, wie ich später erfahren hatte, gab sich aber grösste Mühe, mein Glück zu teilen. Ich fühlte mich mental und physisch frisch. Es war unglaublich. Ich hatte das Ziel immer klar im Kopf. Ich verschwendete keinen einzigen Gedanken an eine Pause oder fragte nach dem Sinn. Ich war absolut klar im Kopf und eins mit meiner Idee, diese Etappe erfolgreich zu beenden. Ein erstaunliches Gefühl, was im Nachhinein sehr befreiend wirkte.
Nachdem wir etliche Kurven passiert hatten und auf meiner Uhr schon mehr als 73,4km angezeigt wurden, verliess mich zum ersten Mal ein wenig die Kraft, da das Camp nicht zu sehen war. Nach einer weiteren Kurve lag vor uns eine lange Strasse. In weiter Ferne konnten wir so etwas wie ein Camp erkennen. Ich versuchte alles Positive in mir zu aktivieren, dass wir es auch noch bis zum Ende dieser Strasse schaffen würden; jedoch zweifelte ich, dass es sich wirklich um das ersehnte Zeltlager handelte. In Gedanken versunken drehte ich plötzlich den Kopf nach rechts traute meinen Augen nicht: Hinter einem Hügel sah ich die Dächer der portable WC-Boxen, die immer im Camp aufgestellt werden! Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so sehr über den Anblick von ToiTois gefreut! Ich brüllte Massimo in Staccatosätzen regelrecht an: „Masssssssimoooo, rechts! Die Toiletten! Das Camp! Es ist direkt hinter diesem Hügel!“ Das letzte verfügbare Adrenalin schoss in unsere Körper und die letzten Kraftreserven wurden angezapft. Mit einem hysterischen Lachanfall überquerten wir Hand in Hand nach 9 Stunden und 52 Minuten die Ziellinie. Die Gefühle waren unbeschreiblich und überwältigend. Wir hatten es zusammen geschafft. Wir hatten uns beiden gegenseitig so viel geholfen und uns immer wieder motiviert. Dafür bin ich sehr dankbar.
Die folgenden Stunden gestalteten sich in etwa so: Im Zelt (ich war wieder die Erste…) das Equipment verstaut. Einen doppelten Proteinshake, gemixt mit einer Handvoll Elektrolyte und einer weiteren Flasche Kohlenhydratgetränk fertig gemacht. I-pod mit „Death Cab For Cutie“ angeschaltet und einfach über den Zeltplatz spaziert, um die Beine zu lockern. Meinen Gefühlszustand könnte ich in etwa so beschreiben: Dauergrinsen mit Tränen. Ich war unglaublich stolz auf meine Leistung. Die Beine schmerzten nach dieser langen Distanz im Oberschenkel und in den Hüften; beim weiteren körperlichen Check verspürte ich in den restlichen Gelenken oder Muskeln jedoch keinen Schmerz. Und die Tatsache, dass ich meinen Vorsprung der Erstplatzierten um weitere 20 Minuten ausbauen konnte motivierte mich absolut…
Rückblickend kann ich sagen, dass ich immer mein Tempo gehalten habe. Ich hätte auch schneller laufen können, aber ich versicherte mich mit meinem Wohlfühltempo, in dem die Fettverbrennung optimal funktioniert. Ich hatte nie auch nur das Gefühl einer Unterzuckerung, eines Krampfes oder den Gedanken der Aufgabe im Kopf. Das Ziel hatte ich immer klar voraus und motivierte mich mit Sätzen wie: „Ich habe schon 25km, ich habe schon 46 km, ich habe schon…“ oder mit „Ich habe das geübt, ich kann das!“ Sicherlich haben mir auch meine Erfahrungen, die ich bei den 24 Stunden Wanderungen gesammelt habe, geholfen. Tiefpunkte werden einfach mit der Tatsache überwunden, dass es immer vorwärts geht. Wer zurückschaut, der leitet die Energie in die falsche Richtung. Vorne liegen das Ziel und die Zukunft, die keiner kennt und nur erahnen kann, was sie möglicherweise bringt. Aber diese Gedanken beflügeln mehr, als mit den Gedanken in der Vergangenheit zu hängen. Eine tolle Erfahrung für mich selbst.
Im weiteren Abendverlauf trudelten nach und nach auch Roberto, Alex, Joel, Team Germany/Switzerland, Stuart und Fred ein und jeder hatte seine eigene persönliche Geschichte dieser langen Etappe zu erzählen. Wir machten es uns vor unserem Zelt gemütlich und lauschten den Abenteuern bis die Sonne unterging. Das Wetter zeigte sich an diesem Abend auch von einer spektakulären Seite. Der Himmel verfärbte sich auf der einen Seite in ein bedrohliches Schwarz und auf der anderen Seite zeichneten sich zwischen blauer Farbe und weissen Wolken die entfernten Vulkane ab. Leider zogen die schwarzen Gewitterwolken genau über unser Camp. Obwohl uns die einheimischen Chilen versicherten, dass es an diesem Ort niemals regnen würde, traute ich der Situation nicht ganz. Und als dann ein heftiger Wind aufzog, so dass die Zeltstangen mit grossen Steinen fixiert werden mussten, verkroch ich mich doch lieber in meinen Schlafsack und liess das Gewitter mit Sturm und Regen über uns hinweg fegen. Es war aber eher ungemütlich und unruhig und mein Herzkreislaufsystem war mit der Regeneration derart beschäftigt, dass ich es nicht wusste, wie ich mich legen sollte. Die Hüften und die Beine schmerzten doch heftig und es war unmöglich, eine bequeme Position zu finden. Nachdem der Regen aufhörte, stieg ich nochmals aus meinem Zelt und spazierte etwas über den Platz. Dort traf ich zu meiner grossen Verwunderung einige meiner Zeltmitbewohner und Nachbarn; war ich also nicht die Einzige, die keinen Schlaf fand. Die Nacht verlief dann aber doch recht gut und ich versank später in einen tiefen erholsamen Schlaf.
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