Samstag, 6. Oktober 2018

Das erste Rennen nach einem Jahr Pause: Andorra Ultra Trail im Juli 2018

Wie jede andere Reise hat auch dieses Rennen eine Geschichte dahinter. Das Andorra Ultra Race stand schon lange auf meiner Liste. Andorra hatte ich als Land noch nie bereist und die Bilder der Berge und Trails sahen sehr verlockend aus. Nachdem ich im Jahr 2017 überhaupt kein Rennen gelaufen war, sollte der "Celestrail" mit 85 Kilometern und 5000 Höhenmetern ein kleines Comeback sein. Aber bitte kein Comeback im eigentlichen Sinn; denn ich war ja nie weg. Eine Pause zwischendurch ist sicherlich ratsam. Es macht wenig Laune Dinge zu tun, die keinen Spass machen. Und wenn der Kopf nicht parat ist, dann sollte man es lieber gleich ganz sein lassen und sich anderen Dingen widmen. Den Winter rannte ich wie verrückt mit den Ski den Hausberg rauf. Da "Spazierengehen" zu einer Disziplin gehört, die ich gar nicht kann, schnallte ich mir die Ski immer auf den Rucksack und fuhr mit dem Bike bis zur Piste, die ich oftmals in der Mittagspause hochlief. Immer wieder. Und es war immer wieder anders. Ich war anders drauf, das Wetter war anders drauf, der Schnee war anders. Auch wenn es immer die gleiche Strecke war, war es nie langweilig. Mit dieser Power in den Beinen startete ich meine Vorbereitung für den Andorra Ultra. Eine zusätzliche Motivation hatte ich durch meinen Lauffreund und guten Freund Tim, der das 170km lange Rennen machen wollte. Ich finde es immer schön, wenn ich nicht alleine an einen Wettkampf reisen muss. Es ist immer sehr bereichernd, wenn gute Leute mit an Bord sind, die genau wissen, wie es einem geht und was man gerade fühlt. Denn die Nervosität vor so einem Lauf ist nicht zu unterschätzen. Und Tim und ich kennen uns gut. Immerhin sind wir beim Trans Alpine Run im Jahr 2015 zusammen 8 Tage lang über die Alpen gelaufen und ich hatte nicht meine besten Tage.... weil ich zu erschöpft zum Kilimajaro-Abentuer war...
Die Vorbereitung verlief dann eigentlich ganz gut. Ich schaffte einige lange und intensive Läufe und war nachher gar nicht so erschöpft. Das Motto für Andorra war: es einfach laufen zu lassen. Ich wollte mir jeglichen Druck nehmen, so dass Zweifel erst gar keine Chance hatten. Aber klar, die Gedanken kann man nicht einfach so stoppen. Und wie sollte es schon werden, wenn ich ein Jahr lang gar keine Wettkämpfe gelaufen war und das letzte Race in Portugal bei der Weltmeisterschaft in ganz schlechter Erinnerung in meinem Gedächtnis verankert war.
Mein Motto ist ja immer, so viel Neues und so wenig Altes wie möglich zu machen. Ich werfe mich ja gerne in Unbekanntes, das mich herausfordert und all meine Kräfte fordert. Deswegen mache ich auch nie einen Wettkampf zweimal. In Andorra war die Streckenlänge zwar etwas Bekanntes, aber die Startzeit völlig unbekannt: Um Mitternacht sollte der Startschuss erfolgen. Für mich, die die Nächte in der Dunkelheit eher nicht so toll findet, eine erfrischende Herausforderung.
Drei Wochen vor dem Race musste ich mich dann aber intensiv fragen, ob ich wirklich nach Andorra reisen wollte. Tim war bei einem Trainingslauf 200 Meter eine Felswand abgestürzt und hatte sich so gut wie alles im Körper gebrochen, was man sich nur brechen kann. Der Schock saß bei uns allen ziemlich tief. Hatten wir doch vor vier Jahren schon Basti am Berg verloren. Alles in allem hatte er so großes Glück, welches man nicht in Worte fassen kann. Sicherlich lag es auch an seiner extremen Fitness, dass er diesen Sturz so "gut" überlebte. In solchen Momenten frage ich mich, wie oft man eigentlich schon Glück gehabt hat. Vielleicht bekommen wir alle beim Übergang ins Reich der Toten eine Liste gezeigt, auf der all die Momente stehen, in denen wir "Glück" gehabt haben. Oder aber es ist realistischer Zufall gewesen. Jedenfalls überlegte ich intensiv, ob ich nun alleine nach Andorra fahren sollte, oder nicht. Die wenigen Worte, die Tim zustande brachten, waren eindeutig. "Natürlich fährst du nach Andorra!".
Mit einem mulmigen und traurigen Gefühl im Bauch machte ich mich dann am 5. Juli auf den Weg nach Barcelona und von dort weiter nach Andorra. Die kleine Stadt stand voll im Zeichen Ultrarace  und wo man nur hinschaute waren Läuferinnen und Läufer. Die Stunden vor dem Start waren zehrend und zermürbend. Nicht zu viel essen, nicht zu viel trinken und mindestens zwei Stunden vor Start nicht mehr schlafen. Ich war sowieso viel zu aufgeregt. Und dann packte ich meinen Rucksack und ging in Richtung Startgelände- der Herzschlag und das Adrenalin waren auf Hochtouren.
30 Minuten vor dem Start gab es eine tolle Feuerwerksshow und Stelzentänzer. Die Stimmung war irgendwie ausgelassen, aber dennoch angespannt. An der Startlinie traf ich dann noch Thierry - ein alter Freund aus dem damaligen UVU Team. Wir begrüßten und herzlich und wünschten uns Glück. Der Countdown ging los und alle schalteten die Stirnlampen ein. Ich hatte mich für die kleinste und älteste Lampe entschieden, die ich in der Sammlung habe. Eine kleine Black Diamond Stirnlampe mit 2 Batterien. Ich dachte: lieber leicht als schwer und für 4 Stunden Dunkelheit wird die Lampe schon reichen. Hah, das war eine volltreffliche Fehlüberlegung, wie sich später herausstellen sollte. Mit einem lauten Knall ging es los. Ich rannte die ersten Kilometer ziemlich schnell. Immerhin hatte der Veranstalter mit die Nummer 2001 gegeben: die erste Startnummer für diese Kategorie. Wie ist so etwas liebe...-
Nach den ersten Anstiegen im recht überschaubaren Walkingtempo ging es dann über schmale und technisch anspruchsvolle Singeltrails. Meine Stirnlampe war im Vergleich zu den anderen eher eine Antiquität aus dem vorherigen Jahrhundert, was den weiteren Nachteil hatte, dass die Flutlichtscheinwerfer  vor und hinter mir einen großen Schatten warfen und ich kaum sehen konnte, wohin ich treten sollte. Nach ca. 5 km gab es dann den ersten "Rums"- ich lag der Nase nach im Staub. Gestürzt über eine Wurzel oder Stein, ich weiß es nicht mehr. Alles war voller Staub, aber meine Knochen waren heile geblieben. Erste Zweifel kamen auf, ob ich hier wohl an richtiger Stelle und am richtigen Ort war. Ich strauchelte und stolperte so vor mich hin. Und als es dann auf den höchsten Punkt ging und ein gefährlich kalter Wind aufzog, sollte ich ein weiteres Mal geprüft werden. Das Licht meiner Lampe verabschiedete sich und ich musste Batterien wechseln. Mit lautem Fluchen fummelte ich die Ersatzbatterien aus dem Rucksack und stopfte, während ich natürlich weiterhin im Stechschritt den Berg in Richtung Gipfel hinaufhechtete, die Batterien in die Lampe. Mit neuem Licht ging es dann über einen schmalen Grat und dann bergwärts über eine Kuhwiese mit vielen Umknickfallen. Ein fieses Zwicken im Zwerchfell gesellte sich dann auch noch dazu und ich hätte mich am liebsten ins Gras gesetzt und mit dem ganzen Quatsch aufgehört. Doch die Stimme von Tim trällerte unaufhörlich in meinen Ohren: "Lauf Flamme, jetzt erst recht" . Oder: Wenn die Flamme einmal brennt, dann brennt sie!" Ok, weiter, immer weiter. Der erste lange Downhill war dann die nächste Herausforderung. Der Trail war wieder sehr technisch und ich musste in der Dämmerung ständig schauen, wohin ich den nächsten Fuss stelle. Dazu rutschte mir die Stirnlampe ständig auf die Nase, so dass ich abwechselnd damit beschäftigt war, die Lampe wieder nach oben zu schieben und zu hoffen, dass es bald hell werden würde. Was für ein Kraftakt. Nach guten 6 Stunden Dunkelheit wurde es dann endlich Tag und ich konnte die Lampe versorgen...
Bei Tagesanbruch erreichte ich den nächsten Checkpunkt. Als ich diesen wieder verließ, kam gerade die zweitplatzierte Frau reingelaufen. Ich erschrak mich fürchterlich; hatte ich doch keine Ahnung, wo sich wer im Feld aufgehalten hat in der Nacht. Fortan beschleunigte ich das Tempo. Ich musste mich ja nicht mehr um meine Stirnlampe kümmern, sondern konnte es einfach laufen lassen. Und so lief es dann auch. Die zweite Hälfte des Rennes war annähernd perfekt. Bis auf die Krämpfe in den Oberschenkeln, die sich ab Kilometer 55 bemerkbar machten. Ich schluckte ständig Magnesium und Salztabletten, aber es herrschte einfach ein Missverhältnis. Ich schaffte es aber dennoch, das Tempo hochzuhalten und rannte das tolle, wellige Gelände, als sei nichts gewesen. Der letzte lange Anstieg verlangte dann nochmals alle Kräfte und wie ein Käfer krabbelte ich im gefühlten Schneckentempo bis zum höchsten Punkt. Dort erntete ich viel Lob für meinen Rhythmus und Technik und beschwingt machte ich mich auf den allerletzten Downhill. Eigentlich ist die Freude dann immer groß, wenn man weiß, dass das der letzte Abschnitt ist, den man im Vorfeld so oft herbeigesehnt hat. Aber mit höllisch schmerzenden Oberschenkeln ist das schwerlich ein Vergnügen. Egal. Was da nur noch hilft ist Kopf ausschalten und jegliche Energie bündeln und es dann krachen lassen. Ich hatte immer wieder Tim`s Stimme im Kopf und rannte so schnell dieses ziemlich steile Terrain runter, dass ich mich in einen euphorischen Zustand brachte, der die Schmerzen einfach überstimmte. Ich hüpfte über die Wurzeln und Steine und machte einfach keinen Halt. Als ich die Strasse, die zum Ziel führte erreichte, konnte ich sogar nochmals das Tempo anziehen und rannte mit einer unbändigen Kraft in Richtung roter Teppich. Ich wurde mit tobendem Applaus und einer Glitzerkanone empfangen und kam dann endlich zum Stehen. Ein unbeschreibliches Gefühl schoss durch jede Zelle meines Körpers und Geistes. Als ich auf die Zieluhr blickte, bekam ich fast einen Lachanfall. Auf der Uhr stand 12h 42 min. Am Vorabend fragte mich beim Essen eine Dame, was ich meinen würde, wie lange ich für die Strecke brauchen würde. Aus Scherz meinte ich 12h45min. So viel zum Thema Selbsterfüllende Prophezeiung. Diese sensationelle Zeit reichte dann auch noch für einen neuen Streckenrekord (30min verbessert) und den 13. Platz Overall.
Ich kann rückblickend so viel sagen: meine Oberschenkel erholten sich erst nach ca. 3 Wochen von diesen Strapazen. Tim freute sich sehr über meinen Erfolg, aber es war auch ein schwerer Tag für ihn, das Rennen zu verfolgen. Dem Veranstalter sagte ich, dass ich wieder kommen würde, aber nur zusammen mit Tim und unserem gesamten Quartett (Maggy und Rainer). Auf diesen Tag freue ich mich schon und hoffe, dass es Tim schaffen wird.
Ich weiß jetzt auch wieder, wie es sich anfühlt, wenn es einfach mal wieder "läuft". Wenn der Körper fit ist, aber noch viel mehr, wenn der Kopf parat ist. Dann kann man Großes erreichen. Die Leidenschaft und Begeisterung lassen so manche Hürde überwinden und es lohnt sich demnach immer, es herauszufinden.
Mein Musiktipp: Kapelle Petra "Morgen ist frei" https://www.youtube.com/watch?v=EWtItzH-AvM
Vor dem Start. Man beachte mein "Stirnlämpchen"... 
Zieleinlauf mit Glitzerkanone. 




Kalorienzufuhr nach dem Race...